Freitag, Oktober 15, 2004

Das Lächeln der Mona Lisa

Nun denn, aus irgendeinem mir nicht näher bekanntem Grunde ist heute wieder eine dieser Nächte, wo ich mich von einer Seite auf die andere drehe, Schäfchen zähle, ein Glas Milch nach dem anderen trinke und ähnliche Rezepte gegen Schlaflosigkeit anwende. Eher erfolglos - sonst würd ich ja nicht schon wieder hier herumtippen ;)

Habe einen etwas älteren Text gefunden, ihn mühsam in dieses Maschinchen gespeist und umgearbeitet. Wie gesagt, ein älterer Text und die Originalfassung gefiel mir nicht mehr so. Und nein, dies ist kein männer feindlicher Text, auch wenn er so rüberkommen mag. Ich verstehe unter "Feminismus" und "Emanzipation" immer noch etwas anderes als Alice Schwarzer. Aber darüber können wir ein andermal diskutieren wenn gewünscht ... Ich wünsche Euch viel Spaß mit dieser Erzählung.


"Mona Lisa" von Leonardo da Vinci

Das Lächeln der Mona Lisa

Hier stehe ich nun, ein Glas in der Hand, am geöffneten Fenster und schaue auf die Stadt. Die Stadt bei Nacht, tausend funkelnde Lichter sprechen von leben, lieben, streiten, Alltag und Außergewöhnlichem. Der Hauch von Abenteuer in der romantischsten Stadt der Welt: Paris. Mir ist gerade gar nicht romantisch zumute. Ich stehe alleine hier und meine einzige Gesellschaft ist ein Glas Whiskey, ohne Eis. Golden schimmert der Whiskey im Glas und ich zünde mir eine Zigarette an, setze mich aufs Fensterbrett und entlasse kleine Rauchkringel in die Nacht. Diese Stadt pulsiert und schäumt über vor Leben, selbst hier oben im fünften Stock spüre ich ihren Herzschlag noch. Er schlägt seit Jahrhunderten, gleich und unverändert, Tag und Nacht.

Meine sich überschlagenden Gedanken kommen allmählich zur Ruhe nach einem anstrengenden Tag. Sightseeing, Shopping, Kultur, Geschichte - sie haben meinen Geist mit tausend Eindrücken überschwemmt. Langsam hebt sich etwas aus diesem Gedankenkarussel ab. Ein einzelnes Bild, das im "Musée du Louvre" hängt und weltberühmt ist und zu dem meine Gedanken zurückkehren, wie so oft heute. Eigentlich ist Kunst nicht so mein Ding, aber ein Besuch im Louvre gehört einfach zu einem Paris-Aufenthalt, ebenso wie das Besichtigen des Eifelturms oder Baguettes und Croissants. Aber ich hatte nicht gerade die Wahl, der Besuch stand auf dem Programm der LK-Fahrt. Ich stapfte also eher unmotiviert durch dieses Museum, schenkte den ausgestellten Kunstwerken eher wenig Beachtung und fragte mich, wie lange wir hier noch verweilen wollten. Da geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Mein Blick wurde wie magisch angezogen von einem Kunstwerk, das weltberühmt ist. Auf Postkarten, als Kunstdruck, in Kalendern und Lehrbüchern ist es zu finden. Dabei zeigt es nur eine Frau, die lächelt. An sich gar nichts Welt bewegendes. Sicher, ich hatte Leonardo da Vincis "Mona Lisa" auch schon in verschiedenster Ausführung zu Gesicht bekommen. Aber nie hat sie mich fasziniert, nicht so wie es heute geschehen ist.

Was ist so besonders an dieser Frau, die lächelt? Und warum geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf? Dieses Lächeln, es ist unergründlich, geheimnisvoll, nicht zu entziffern. Ich stand vor diesem Bild und fragte mich, was diese Frau gedacht haben mochte, was dieses Lächeln ausgelöst hatte und was Leonardo da Vinci wohl in ihr gesehen haben mochte. Es hat etwas bekanntes, als ob man es schon irgendwo gesehen hat. Wie eine alte Schulkameradin, die man nach Jahren wieder trifft und nicht wirklich erkennt. Sie ist nicht einmal wirklich hübsch, wenigstens empfinde ich sie nicht als hübsch oder schön. Ich bin in dieses Lächeln versunken, bin seinem Geheimnis erlegen.

Den restlichen Tag stürmten weitere Eindrücke auf mich ein, Eindrücke von Paris. Aber Mona Lisa hat mich nicht losgelassen und ich grübel noch immer über ihr Lächeln nach. Sie ist hier und mir erscheint es, als ob sie über der Stadt schweben und mich auslachen würde. "Du kommst ja doch nicht dahinter," scheint sie mich zu verspotten. Ich versuche unwillig, die Gedanken an sie zu verdrängen. Es gelingt mir nicht. Leise seufzend gieße ich Whiskey in mein mittlerweile leeres Glas und entzünde mir noch eine Zigarette. Wo habe ich dieses Lächeln schon einmal gesehen? Schließlich muß es einen Grund geben, warum es mir so bekannt vorkommt. Ich kenne nicht einmal jemanden, der auch nur entfernt Ähnlichkeit mit Mona Lisa hätte. Ich bin in Paris, der romantischsten Stadt der Welt, der Stadt der Liebe, und alles womit ich mich beschäftigen kann, ist der Gesichtsausdruck einer Frau, die schon lange tot ist und deren Geheimnis ein begnadeter Künstler auf Leinwand gebannt und es somit unsterblich gemacht hat.

"Was willst Du mir sagen, mitteilen, offenbaren?" leise sende ich den Gedanken in die Nacht hinaus, wo er sich langsam auflöst, so wie meine Rauchkringel. Von der Stadt mit ihren funkelnden Lichtern erhalte ich keine Antwort. Ich habe es auch nicht wirklich erwartet, dieses Rätsel muß ich alleine lösen. Ich rufe mir das Bild vor mein inneres Auge, warte geduldig, bis es in aller Klarheit in meinem Geiste zu erkennen ist. Ich studiere wieder Mona Lisa, den Ausdruck in ihren Augen, ihre Haltung und dieses vermaledeite Lächeln. Und plötzlich ist sie da, die Erkenntnis. Sie schlägt ihre eiskalten Klauen um meinen Verstand. Dieses Lächeln ist nicht einzigartig und es ist mir schon so oft begegnet, daß es Alltag geworden ist. Mona Lisas Lächeln kann man überall erblicken. Im Gesicht der jungen Mutter, die im Supermarkt mit zwei Kindern steht und sich von einer ungehaltenen Verkäuferin maßregeln lassen muß, daß Ü-Eier nicht im Laden verzehrt werden dürfen. Im Gesicht der berufstätigen Frauen, die abends erschöpft mit der Bahn nach Hause fahren mit dem Gefühl, niemand schätzt ihre Arbeit. Im Gesicht der Frauen, die gefangen sind in Ehen, die sie nicht glücklich machen oder deren Männer sie nicht als gleichwertigen Partner, sondern als Köchin und Putzfrau ansehen.

Mona Lisa ist in jeder von uns. Ihr Lächeln kann man in jeder Frau erblicken, die aufgegeben hat sich zu wehren. Die sich in ihre seit Jahrhunderten angestammte Rolle hat zwängen lassen. Die demütig lächelt und sich unterordnet. Wir leben in einer modernen Zeit, wir dürfen wählen, studieren, Berufe ausüben und gleichzeitig Mutter sein. Und dieses Bild ist alt, stammt aus einer längst vergangenen Zeit. Unsere Zeit dagegen ist doch modern. Aber ist sie das wirklich? Ein Bild aus vergangenen Zeiten und doch, Mona Lisa lebt immer noch in uns. So unerschütterlich wie der Herzschlag dieser Stadt, der seit Jahrhunderten stetig und unverwüstlich schlägt.

Erschrocken von meinen eigenen Gedanken lasse ich das Glas fallen, der Whiskey versickert unbeachtet im teuren Teppich. Ich stürze ins Bad, vor den Spiegel und betrachte kritisch, was mir entgegen schaut. Trage auch ich das Lächeln der Mona Lisa im Gesicht? Gehöre auch ich zu denen, die aufgegeben haben, die sich nicht wehren, die demütig akzeptiert haben was so unerschütterlich erscheint? Ich schaue lange in den Spiegel und suche nach der Mona Lisa in mir bevor ich zurückkehre ans Fenster, mein Glas aufhebe und mich wieder auf die Fensterbank setze. "Hast du verstanden?" scheint mich die Stadt zu fragen. Ich denke sehr lange nach, bevor ich meine Antwort in die Nacht schicke.

© Mirtana, überarbeitet Herbst 2004