Montag, Mai 30, 2005

Saratov - Russland (Fortsetzung)

Draußen geht gerade das erste Sommergewitter dieses Jahres nieder, in regelmäßigen Abständen erleuchten Blitze das Wohnzimmer, es grummelt und kracht, der Regen prasselt gegen die Fenster und es der Geruch nach Regen zieht durch die geöffnete Balkontür. Mein Tee ist schon lange kalt, der Wodka wird allmählich warm und ich hänge meinen Erinnerungen nach, versuche zu sortieren, was ich im Sommer 97 erlebt, gesehen und gefühlt habe. Versuche, mich an Namen und Gesichter zu erinnern und frage mich, was diese Menschen jetzt machen. Ein wenig Schwermut hängt im Raum und ich fahre noch einmal durch Moskau.

Genau so, wie wir es am Tag nach unserer Ankunft auf russischem Boden taten. Nach einem Frühstück, das man bestenfalls als ausreichend bezeichnen kann, fuhren wir mit der Metro zum Roten Platz. Jede Metro Station im Zentrum Moskaus ist anders gestaltet. Früher einmal sprachen sie von üppiger Pracht mit ihren Marmorsäulen und Statuen und in jeder Station lief ein offiziell aussehender Mensch herum, der darauf achtete, daß nicht fotografiert wurde. Die Bahn selber war verdammt schnell, es war stickig in den Wagen, es zog und es klapperte. Einstmals der ganze Stolz Moskaus, die als eine der ersten Städte über eine U-Bahn verfügte, ist das einstige Prestige-Objekt wie so viele Dinge in Rußland mehr eine täglich genutzte Antiquität. Der Blick in die Gesichter der Fahrgäste ist einer von vielen Eindrücken, die man nicht so schnell vergißt. Gleichgültigkeit und vom Leben gezeichnete Gesichter. Kaum einer schenkte uns mehr als einen flüchtigen Blick, obwohl man uns ansah, daß wir keine Russen waren. Ich hab mich damals gefragt, wieviele dieser Menschen wohl die Metro nutzten, um zur Arbeit zu fahren und wieviele überhaupt Arbeit hatten.

Ankunft Roter Platz und da begegnete ich zum ersten Mal in meinem Leben dem Phänomen der fähnchenschwenkenden Fremdenführer. Ich hatte mich auf das Lenin-Mausoleum gefreut, doch es war Montags, da hatte der Gute Ruhetag. Ärgerlich. Auch das Wetter ließ uns im Stich, es war warm, drückend und der Himmel wolkenverhangen. Bei der Führung durch den Kreml, der nicht wie das Mausoleum Montags Ruhetag hat, überall Männer in Uniform mit der Kalaschnikov im Arm. Wir werden angewiesen, uns nicht zu entfernen und auf den Bürgersteigen zu bleiben. Aus gutem Grund, einer unserer Gruppe stolpert und tritt versehentlich mit einem Fuß auf die Straße und aus den Augenwinkeln ist zu sehen, daß einer der Uniformierten in Bewegung gerät und gestikuliert, er solle auf dem Bürgersteig bleiben. Von dem, was uns die Stadtführerin erzählt hat, ist mir so gut wie gar nichts im Gedächtnis geblieben. Woran ich mich noch erinnern kann, das ist die riesige Glocke, die bei einem Feuer (?) vom Turm stürzte und zerbarst. Imposanter Anblick dieser mehr als mannshohen Glocke, die mehrere Tonnen wiegt und auch heute noch da steht, wo sie damals heruntergestürzt ist. Was ich auch noch vor Augen habe, das ist S., wie sie mit Pelzmütze und Hardrock Cafe Moskau T-Shirt (das sich im Kyrillischen Mockba schreibt) auf dem Roten Platz steht, über den wenige Einheimische und etliche Touristen flanieren, die Arme in die Seiten gestemmt und lacht.

Moskau ist die Stadt der Gegensätze. Auf den Straßen fahren teure Autos über löcherigen Asphalt, überall sieht man Reklametafeln amerikanischer Firmen und fast schon darunter sitzen die Ärmsten der Armen und betteln. Die alten und historisch wertvollen Gebäude, von weitem imposant und von nahem sieht man den Zahn der Zeit, stehen im krassen Gegensatz zu den kommunistischen Betonklötzen, deren Balkone mit Glasscheiben versehen sind zwecks Gewinnung von zwei Quadratmetern mehr Lebens- und Wohnraum. Der neue Reichtum prallt auf die schon immer da gewesene Armut, die überall offensichtlich ist. Wenn man hinschaut, kann man die Verwahrlosung erkennen, denen viele Gebäude anheim fallen. Kein Geld für Instandsetzungen und mir, als Liebhaber von alten Gebäuden, tat es manchmal in der Seele weh, diese ehemals prächtigen Bauten so zu sehen. Ab und an Gerüste und Bauarbeiter, die mit beschränkten Mitteln ihr Bestes tun, den Verfall aufzuhalten. Vieles in Moskau spricht von ehemaliger Pracht und hinterläßt eine leichte Melancholie, doch man sieht auch viel Modernes und den Versuch, sich der westlichen Welt anzupassen, aufzuholen. Ich hätte gerne mehr Zeit gehabt in Moskau, doch Abends war der Weiterflug nach Saratov angesagt. Die Busfahrt zum Flughafen wurde mit einer Sightseeing-Tour verbunden und so erzählte uns die Fremdenführerin dann, was wir rechts und links des Weges bewundern konnten. Es war unangenehm warm im Bus, wir waren müde und außer der Tatsache, daß wir jeden Halt des Busses dankbar zum Frischluft tanken nutzten beziehungsweise uns naß regnen ließen, hörten wir der Dame bald nur noch mit einem halben Ohr zu und auch das gemeinschaftliche Wenden der Köpfe von rechts nach links wurde weniger. Die Informationsflut forderte ihren Tribut und auch wenn wir der fähnchenschwenkenden Fremdenführerin unsere Dankbarkeit am Ende der Tour zollten, war nicht nur ich froh, daß wir endlich am Flughafen waren und keine Stimme mehr aus dem Buslautsprecher plätscherte.

Mit einem alten Bus wurden wir über das Rollfeld befördert, nachdem wir die Abfertigung heil überstanden hatten. Dieser Bus hielt direkt auf eine Propellermaschine zu und mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. So ein Ding würde ich nur bewußtlos besteigen, wenn überhaupt! Zu meiner offensichtlichen Erleichterung, die meine Mitreisenden ungemein belustigte, schwenkte unsere klapprige Beförderung dann doch noch ab und hielt vor einem moderneren Flugzeug, das wir dann über eine steile Treppe am Heck bestiegen. Auch hier war der Komfort alles andere, nur nicht wirklich vorhanden. Den Flug hab ich mehr oder weniger gedöst und daran, daß mir in regelmäßigen Abständen Tropfen aus der Belüftung auf den Kopf fielen, war ich ja schon vom letzten Flug gewöhnt. Es war dunkel, als die Maschine zum Landeanflug ansetzte und niemand hatte uns darauf hingewiesen, daß Saratov über einen ehemaligen Militärflughafen verfügt, der mittlerweile zivil genutzt wird. Kurz über der Landebahn gingen plötzlich die Turbinen aus, ich bekam einen weiteren Schrecken und das Flugzeug sank wie ein Stein nieder, um dann auf der holprigen Landebahn aufzusetzen. Später wurde mir erklärt, daß die Landebahn für einen regulären Anflug zu kurz sei und man deshalb zu diesem "Trick" greifen müsse. Wenn ich das Wort Flughafen höre, dann habe ich hohe Hallen mit modernen Schaltern, Fließbändern, Wachpersonal, moderne und helle Bauten vor meinem geistigen Auge. Der Flughafen in Saratov besitzt nichts davon. Wir konnten dabei zusehen, wie unser Gepäck entladen wurde und wir werden wieder mit einem Bus zur Abfertigungshalle gefahren. Die Mitarbeiter an der Gepäckausgabe lassen sich Zeit, einer nimmt die Gepäckstücke vom Anhänger, ein anderer stellt sie ordentlich in Reih und Glied auf das uralte Transportband. Nur keine Eile. Passkontrolle verläuft reibungslos. Trotz der Tatsache, daß es in Moskau auch relativ zügig und ohne große Probleme von statten ging, nervös war ich trotzdem als ich dem Beamten meinen Paß durch die kleine Luke schob und er mein Paßfoto mit meinem Gesicht verglich. Vor dem Gebäude sammelte sich die Gruppe und dort wurden wir von Alexander Arndt erwartet, der von russischer Seite aus die Organisation des Austausches betreute. Er sprach fließend Deutsch und begrüßte uns mit einer Herzlichkeit und Offenheit, die auf mich absolut echt und nach einem anstrengenden Tag wirklich erfrischend wirkte. Mit zwei Bussen wurden wir ins Ferienlager gebracht. Im Dunkel sahen wir nicht viel von Saratov, einzig die Schlaglöcher in der Straßendecke spürten wir am eigenen Leib, während wir in einem ausrangierten Bus der Rheinbahn saßen, der mindestens schon dreißig Jahre auf dem Buckel hatte. Selbst das "Bitte nach hinten durchgehen" Schild und der Hinweis, daß Schwarzfahren teuer ist, waren original erhalten. Die Fahrt bis ins Lager dauerte ungefähr eine Stunde, die Lichter wurden spärlicher und wir waren vor der Stadt angelangt. Durch eine kleine Siedlung von Datschen gelangten wir vor die Tore unserer Unterkunft für die nächsten zwei Wochen.

Kaum ausgestiegen, wurden wir neugierig von unseren russischen Gästen beäugt. Irgendwie verlegen standen wir mit unserem Gepäck auf dem Platz, der von Flutscheinwerfern hell erleuchtet wurde. Es ist spät geworden während ich dies schrieb, also verschiebe ich die Erklärung, die das Wort "Kulturschock" seit diesem Abend für mich persönlich hat, auf morgen.